Pfingstvoß (plattdeutsch: Pingstvoss)


"Pingstvoss" in Nindorf im Jahre 1982

 

In unserem Dorf treffen sich jeden Morgen die Kinder am Bushäuschen, um zur Schule zu fahren. Eines Morgens hing an der Wand des Bushäuschens ein großer Zettel. Darauf stand zu lesen: 

 

               WAS?       Blumenpflücken für Pingstvoss

               WO?        Beim Bumhof

               WER?       Alle, die Lust haben

               WANN?    Sonnabend um 2 Uhr                             

 

„Was ist denn das für ein Zettel?“ fragte Gabi, die noch nicht lange in unserem Dorf wohnt. Annette erklärte es ihr: „ Jedes Jahr zu Pfingsten pflücken die Kinder Blumen und schmücken damit einen Wagen. Ja und am Sonntag ziehen wir dann mit dem Wagen durchs Dorf und singen. „Das Allerbeste hast Du  vergessen,“ sagte Joachim, „ die Leute müssen nämlich für den Pingstvoss im Wagen was stiften. Sie geben Geld und manchmal auch Eier. Du wirst schon sehen.“

 

Was ist denn der Pingstvoss?“ wollte Gabi noch wissen. „Das ist der Pfingstfuchs, der sich ein Bein gebrochen hat. Und damit er zum Doktor gehen kann, sammeln die Kinder Geld für den Doktor.“ „Ist denn da ein richtiger Fuchs im Wagen?“ fragte Gabi zweifelnd. „Nein, nein,“ beruhigte sie Annette, „ der Pingstvoss wird von einem Kind gespielt, das im Wagen sitzt.“

 

Am Sonnabend war es dann soweit. Pünktlich um 2 Uhr versammelten sich alle Kinder am Bumhof. Eigentlich ist es gar kein Hof, sondern eine große Wiese, die an einem Bach liegt. Und diese Wiese heißt Bumhof.

 

Joachim teilte die Kinder ein: „Also Michael und Jürgen, Ihr staut den Bach auf für die Blumensträuße. Hartmut und ich, wir besorgen die Zweige! Und die übrigen Jungen über 12 Jahre sind die Buschschlepper.“

 

Gabi fragte: „Was können denn die Mädchen machen?“ „Die großen Mädchen binden doch die Sträuße und die kleinen Mädchen und Jungen pflücken Blumen!“ sagte Anja, die schon oft mitgemacht hatte.

 

Nicole, Maren und Yvonne waren Blumenpflücker. Sie hatten sich Körbe auf ihre Fahrräder geklemmt und fuhren durchs Dorf. „ Guck mal, bei Schierhorn blüht der Flieder!“ Aber leider stand Frau Schierhorn wie zufällig am Zaun und schien ein wachsames Auge auf ihren Flieder zu haben. Aber da sagte Frau Schierhorn: Na Ihr Deerns, wollt ihr ein paar Zweige für den Pingstvoss haben?“ Als die Mädchen begeistert nickten, schnitt ihnen Frau Schierhorn einen schönen Strauß ab.

 

Nicole sagte: „ Mein Vater macht gerade Mittagsschlaf. Ich glaube, wir könnten noch etwas Vergissmeinnicht aus unserem Garten holen.“ Und das taten die drei dann auch.

 

Bei Klingers hing ein blühender Kirschzweig etwas weit über den Gartenzaun, wie Tilli fand. Er hatte den Zweig gerade abgebrochen und war mit dem Fahrrad wenige Meter gefahren, als Herr Klinger plötzlich um die Ecke bog. Tilli wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber Herr Klinger näherte sich  ganz freundlich und bewunderte den Kirschzweig.

 

„Ich würde ihn gern meiner Frau schenken,“ sagte er. „ Verkaufst Du ihn mir für eine Mark?“ Tilli nickte erleichtert und so kam es, dass Herr Klinger später seiner Frau ahnungslos einen geklauten Kirschzweig überreichte.

 

Auch die großen Mädchen waren inzwischen nicht faul gewesen. Sie standen an dem aufgestauten Bach und banden immer neue Sträuße. „Hört das denn gar nicht auf?“ fragte Nina, als ihr Trixi und Anja riesige Mengen von Butterblumen anschleppten. „Bald ist es geschafft“ sagte Joachim, der sich die Sträuße zwischendurch ansah. „Ihr müsst die Sträuße nur noch ins Wasser stellen, damit sie bis morgen frisch bleiben.“ Und dann trug Joachim alle, die geholfen hatten, in eine Liste ein.

 

Die großen Jungen gingen jetzt in den Wald. Es war gar nicht so einfach, das frische Buchenlaub von den Bäumen zu bekommen, denn die Bäume waren recht hoch. Aber der umsichtige Joachim hatte eine Leiter mitgebracht, die an einen Baumstamm gelehnt wurde. Joachim klettert auf den Baum und sägte dort schöne grüne Buchenzweige ab.

 

Sven und Tilli schleppten die abgesägten Zweige zu einem kleinen Handwagen, der auf einer Lichtung stand. Hier waren die großen Mädchen damit beschäftigt, die Buchenzweige um ein Gerüst auf dem Handwagen zu flechten. „Mir tut schon jeder Finger einzeln weh von diesen pieksigen Zweigen,“ sagte Gabi. „Können wir nicht ein wenig lockerer flechten?“ „Nein“ ,sagte Silke, „denn im Wagen muß ja noch der Pingstvoss sitzen. Simone hat im letzten Jahr ganz schön gestöhnt, weil es so eng war.“  Es war schon fast dunkel geworden, als die Mädchen endlich fertig waren.

 

Am Pfingstmorgen trafen sich alle Kinder um 8 Uhr auf dem Bumhof. „Jetzt müssen wir noch mit allen Sträußen den Wagen schmücken,“ sagte Joachim und die Mädchen begannen sofort, die bunten Sträuße in das frische Buchengrün zu flechten.

 

Nun wurde es spannend: Welches Kind soll Pingstvoss sein? Der Pingstvoss sitzt nämlich versteckt in dem Blumenwagen, und die Kinder verraten den Erwachsenen nicht, welches Kind Pingstvoss ist. Die Erwachsenen müssen es raten und sie fragen deshalb den Pingstvoss. Der knurrt aber nur und faucht, und wer ihm zu nahe kommt, wird mit einer Nadel gepiekt.

 

Malte, der im letzten Jahr schon gern Pingstvoss gewesen wäre, rief: „Ich kann ganz prima knurren“ und er gab so wilde Töne von sich, dass die kleinen Mädchen ganz erschrocken guckten. „In Ordnung“, meinte Joachim, „Malte ist nicht so groß, da passt er gut in den Wagen rein.“ Und so kam es, dass Malte dieses Jahr Pingstvoss wurde.

Nun zogen die Kinder mit dem Blumenwagen durch die Wiesen dem Dorf zu. Sie kamen zum ersten Hof , stellten sich alle im Halbkreis auf und sagten den alten Vers auf:

 

         „Pingstvoss hett sin Been afbroken.

          Mutt damit no´n Doktor gah´n.

          Doktor will dat nich umsüss.

          Möt wie uns wat sammeln.

          Eier in ´n Haut,

          dat let gaut.

          Geld in´n Mütz,

          dat let hübsch.

          Use Deel is holl un boll.

          Dusend Daler har ji woll.

          Een davon in use Kiep.

          Ji ward selig, wi ward riek.“

 

Schon kam Frau Krug aus der Tür:“ Oh, wie hübsch ist der Wagen dieses Jahr geworden. Guck mal, Vadder, all die schönen Blumen! Und wer ist Pingstvoss?“ Aber Malte knurrte nur schauerlich in seinem Wagen und raschelte, so dass Frau Krug schnell einen Schritt zurücktrat. „Und wer ist nun der Kassierer?“ fragte Frau Krug. „Ich“, rief Annette und bekam 3 Mark in Silber in die Kasse. „Vielen Dank auch,“ knickste Annette, und dann zog  der Trupp zum nächsten Hof.

 

Hier bekamen die Kinder tatsächlich wie in alten Zeiten  von Frau Isernhagen 10 Eier, die Silke vorsichtig in ihren mit Heu gepolsterten Eierkorb legte. So zogen die Kinder  von Hof  zu Hof und von Haus zu Haus. Überall sagten sie ihren Vers auf und bekamen Geld, Süßigkeiten oder auch Eier. Frau Brück fragte: „Verkauft Ihr mir ein paar Eier?“ Und so kam auch wieder Geld in die Kasse.

 

Allmählich stieg die Sonne höher und höher und die Kinder bekamen Durst. „Ich glaube , ich seh´ nicht richtig!“ rief Nicole. Da hatte doch tatsächlich der Zimmermann Ahlers vor seinem Haus einen großen Tisch aufgebaut und reichlich Cola darauf gestellt. Im Nullkommanichts hatten die Kinder alles ausgetrunken. Für die kleine Michaela Ahlers knurrte der Pingstvoss ganz vorsichtig, damit sie sich nicht erschreckte.

 

„Warum lachst Du denn so?“ fragte Nicole Dörte. „Die Hansens wollten uns wohl nichts geben und haben einfach die Tür nicht aufgemacht,“ sagte Dörte. „Da haben die großen Jungens einfach ein Ei vor die Tür geschmissen!“

 

Allmählich  merkten doch alle, dass ihnen die Beine schwer wurden. „Nur noch 2 Häuser, dann haben wir es geschafft,“ rief Joachim, und da wurden alle wieder munter. Jetzt schoben die Kinder den Blumenwagen zu  Vogts Hof. Bei der alten Eiche sollte das eingesammelte Geld unter den Kindern verteilt werden. Joachim breitete das Geld  auf einem alten Baumstumpf aus und begann zu zählen. „Über 400 Mark !“ rief er und alle freuten sich.

 

Dann wurde das Geld verteilt. Alle Kinder stellten sich in einer langen Reihe auf und jeder musste sein Alter sagen. Calli rief: „ 4 Jahre“ und bekam 4 Mark. Tilli rief: „11 Jahre !“ Also bekam er 11 Mark. Jeder stellte sich hinten wieder an, um noch einmal nach seinem Alter ausbezahlt zu werden. So erhielt Calli 8 Mark und Tilli sogar 22 Mark. Alle Kinder waren sehr zufrieden mit dieser Aufbesserung ihres Taschengeldes, und außerdem hatte der Umzug natürlich großen Spaß gemacht. Joachim rief: „Wer will, kann sich noch einen Blumenstrauß vom Wagen nehmen!“ Und da holte sich Calli noch einen schönen Strauß für ihre Mama.

 

von Udo Brück